Das WIPIG-Interview mit Anja Kälin und Silke Herbst zum Thema „Demenz“

Unter dem Motto „Demenz neu sehen“ bietet Desideria Care e.V. Angehörigen von Menschen mit Demenz verschiedenste sowohl kostenfreie als auch kostenpflichtige Unterstützungsangebote. Im WIPIG-Interview sind Anja Kälin, Vorständin, systemischer Familien-Coach und selbst betroffene Angehörige, und Silke Herbst, Apothekerin und Verantwortliche für die Projektkoordination und Dokumentation der Online- Demenzsprechstunde „Frag nach Demenz“, vertreten: Beide stehen im stetigen Austausch mit Angehörigen und demenziell Erkrankten. Sie berichten im WIPIG-Interview über ihre Erfahrungen und geben konkrete Tipps für den Umgang mit demenziellen Erkrankungen,z. B. für den Apotheken-Alltag.

Sie bieten eine kostenlose Online-Sprechstunde zum Thema „Demenz“ an. So haben Sie einen besonderen Einblick dahingehend, was die Ratsuchenden beschäftigt: Wie läuft die Sprechstunde ab? Zu welchen Themen gibt es häufig Fragen?

Kälin: Die Demenzsprechstunde ist ein digitales Beratungsangebot, das anonym, zeit- und ortsunabhängig von Betroffenen, also Erkrankten und Angehörigen, aber auch von Fachleuten 24/7 genutzt werden kann. Sie bietet Ratsuchenden die Möglichkeit, per Mail ihre Fragen zu stellen, die daraufhin von einem interdisziplinären Expertenteam innerhalb von 48 Stunden schriftlich beantwortet werden.
Darüber hinaus können sich Ratsuchende auf Wunsch auch über ein Chatformat mit Experten direkt synchron austauschen. Dazu macht man einen Termin aus.

Herbst: Die Themen, mit denen sich die Ratsuchenden an die Online-Demenzsprechstunde wenden, sind sehr unterschiedlich. Es melden sich z. B. Menschen, die Veränderungen an sich feststellen und unsicher sind, ob es sich vielleicht um erste Anzeichen einer Demenz handelt. Andere haben bereits eine Demenzdiagnose erhalten, verstehen aber den Arztbrief nicht und wissen nicht, an welche beratende Stelle sie sich im Krankheitsverlauf wenden sollen. Eine weitere Gruppe an Ratsuchenden sind Angehörige, die ein Familienmitglied betreuen, das schon über längere Zeit mit einer Demenz lebt. Im Laufe der Erkrankung können sich die Symptome immer wieder verändern: Das stellt Angehörige stetig vor neue Herausforderungen und meistens wird es für sie immer problematischer, damit umzugehen. Veränderungen, die oft in der Online-Demenzsprechstunde thematisiert werden, sind z. B. aufkommende Halluzinationen oder Wahnvorstellungen. Ein häufiges Thema ist auch aggressives Verhalten beim Waschen und der Körperhygiene: Hier entsteht häufig eine Not, die nicht auf den nächsten Arzttermin warten kann. Auch das Finden von Entscheidungen ist oft ein belastendes Thema. Vor kurzem ging es z. B. darum, wie man damit umgeht, wenn eine erkrankte Person nicht ins Pflegeheim umziehen möchte. In den Anfragen, die von unseren Experten beantwortet werden, bemerken wir häufig, wie dringend der Bedarf an sofortiger Unterstützung ist.

Wie würden Sie vorgehen, wenn man bei eigenen Angehörigen oder bei einem Kunden in der Apotheke erste Zeichen einer eventuellen demenziellen Veränderung bemerkt? Gibt es Punkte, die man beachten sollte, wenn man z. B. auf die Möglichkeit einer ärztlichen Untersuchung aufmerksam machen möchte?

Herbst: Gerade, wenn man schon lange in einer Apotheke mit einem hohen Stammkundenanteil arbeitet, kommt so etwas tatsächlich ab und zu mal vor. Wir haben als pharmazeutisches Personal ein sehr gutes Verhältnis zu unseren Stammkunden. Es herrscht ein sehr großes Vertrauen. Die Stammkunden erzählen oft viel Privates und damit auch häufig über ihre persönlichen Probleme. Ich hatte eine Kundin, die ständig erzählt hat, was sie aktuell alles vergisst. Mir war das selbst auch aufgefallen, denn sie kam mehrmals am Tag in die Apotheke und sagte „Ach, ich war ja gerade schon da und das habe ich jetzt vergessen“.

Da wir eh schon im Gespräch waren, habe ich die Gelegenheit genutzt und sie gefragt, ob sie schon einmal mit ihrem Hausarzt über die Vergesslichkeit gesprochen hat und ihr vorgeschlagen, das einmal zu machen. Anfangs war die Dame etwas irritiert und meinte, das sei doch alles normal in ihrem Alter. Ich habe ihr aber konkret den Rat gegeben, dass sie das bewusst ansprechen soll, der Arzt könne einfach mal ein paar Untersuchungen anweisen und dafür sorgen, dass nichts übersehen wird und sie gesund bleibt. Sie hat mir versprochen, dass sie mit ihm darüber spricht. Wenn sie das nächste Mal kommt, werde ich sie direkt danach fragen.
Ich denke, es ist wichtig, solche Situationen direkt anzusprechen und dabei zu erklären, warum ein Arztbesuch sinnvoll sein kann, aber dem Patienten dabei auch keine Angst zu machen, sondern ihm oder ihr fürs Erste bewusst zu machen, dass der Arztbesuch nur hilfreich sein kann.

Kälin: Zum einen ist die Perspektive des Erkrankten bedeutsam, der eventuell selbst unsicher mit Veränderungen ist, die er an sich feststellt. Es gibt aber auch die Perspektive des pflegenden Angehörigen, der oft mit großen Herausforderungen kämpft und auch mit Ängsten oder Verunsicherung bezüglich der Situation zu tun hat. Das kann eine große Belastung sein. Wenn nach einer Diagnose Medikamente verschrieben werden, gibt es bei Angehörigen oft viel Halbwissen. Auch weil viele von ihnen im hausärztlichen Kontext nicht eingebunden werden.

Gibt man als pharmazeutisches Personal im Kontext demenzieller Erkrankungen Medikamente ab, sind Fragen darüber hilfreich, ob dem Kunden die Wirkweise der Medikamente bekannt ist, ob man schon im Kontakt mit dem Hausarzt war, ob man sich selbst gut versorgt fühlt und ob es in einem Bereich Unterstützungsbedarf gibt. Bei der Pflege meiner Mutter hat es zum Beispiel lang gedauert, bis ich über den ambulanten Pflegedienst darüber informiert wurde, wie hilfreich Wochendosetten sein können: Zunächst wusste ich nicht, wie ich meine Mutter dabei unterstützen kann, einen Überblick über ihre Medikation zu behalten. Rückblickend kannte ich das Hilfsmittel vorher schon aus dem Krankenhaus. Mit einer entsprechenden Frage in der Apotheke wäre ich eher darauf gekommen.
Es ist also hilfreich, wenn gefragt wird, ob es gerade in bestimmten Bereichen Probleme gibt. Dann kann man gemeinsam auf so eine simple und gute Idee wie die Verwendung von Wochendosetten kommen.

Pflegende Angehörige sehen sich oft mit dem Konflikt konfrontiert, Pflegearbeit und ihren eigentlichen Beruf „unter einen Hut“ zu bekommen. Wie kann es Pflegenden gelingen, Beruf und Pflege miteinander zu vereinbaren? Welche Tipps geben Sie dazu z. B. in Ihren Seminaren für Angehörige?

Kälin: In der Begleitung eines Menschen mit Demenz ist Zeit für die Angehörigen ein kostbares oder gar begrenztes Gut. Das heißt, man steht eigentlich immer unter Druck.
Gerade für pflegende Angehörige wie Töchter und Söhne oder auch Partner von jungen Erkrankten, die selbst noch in der Erwerbstätigkeit sind, wird die Vereinbarkeit von Beruf, Familie und Pflege oft zur Zerreißprobe. Das taucht auch immer wieder in unseren Beratungen auf.
Wenn man den Zahlen Glauben schenkt, reduzieren viele Arbeitnehmerinnen nicht nur aufgrund von Care-Arbeit für Kinder, sondern auch im Kontext von Pflege eines nahestehenden Menschen ihre Arbeitszeiten. Viele geben sogar ihren Job auf.
Wir haben immer wieder Teilnehmerinnen in unseren Seminaren und den Angehörigengruppen, die das tatsächlich bestätigen: Sie haben ihren Job wegen der Pflegesituation zu Hause aufgegeben. Hier ist es wichtig, Angehörigen zu verdeutlichen, dass die Pflege eine Rolle ist, die man aktiv gestalten kann. Dieses Bewusstsein, den Anforderungen der Pflege nicht nur ausgeliefert zu sein, stärken wir in den Seminaren. Wir vermitteln, dass es okay ist, sich zu fragen, was man leisten will und kann und dass es wichtig ist, Grenzen zu ziehen, um sich nicht zu überfordern.
Auf der anderen Seite ermutigen wir unsere Teilnehmer, als Arbeitnehmer proaktiv auf den Arbeitgeber zuzugehen, das Gespräch zu suchen und sich mit dem Thema zu zeigen. Wenn man hier Ängste vor Mobbing etc.hat, kann man sich z. B. mit einem persönlichen Coach austauschen.
Coachings sind heutzutage im beruflichen Kontext nichts Neues. Ein solches Angebot haben wir auch bei Desideria Care e.V.: Im Coaching-Rahmen kann man z. B. Gespräche mit dem Vorgesetzten gut vorbereiten. Da unterstützen wir ganz gezielt.
Es ist das Rollenbewusstsein, das die Angehörigen entwickeln müssen. Das können sie zum Beispiel auch, indem sie sich mit anderen Angehörigen in Seminaren oder Angehörigengruppen austauschen. Der Austausch mit anderen Gleichbetroffenen fördert das Entstehen dieses Bewusstseins.

Welchen Umgang mit „Demenz“ wünschen Sie sich von der Gesellschaft? Was könnte an aktuellen Strukturen verbessert werden? In welcher Rolle sehen Sie dabei das pharmazeutische Personal z.B. in einer „demenzfreundlichen Apotheke“?

Herbst: Zum einen ist es wünschenswert, dass Bewusstsein und Wissen über demenzielle Erkrankungen viel umfassender und breiter gestreut werden: Nicht nur dahingehend, was nach einer Diagnose hilfreich ist, sondern vor allem die Prävention betreffend. Die Aufklärung darüber muss meiner Meinung nach proaktiv erfolgen.
Zum anderen sollte jeder Patient, der eine Diagnose bekommt, noch im gleichen Atemzug darauf hingewiesen werden, was für Möglichkeiten er hat und welche Versorgungsstrukturen es gibt. Diese Informationen kann er durch den Arzt bekommen und dann am besten gleich nochmal durch die Apotheke. Das doppelte Hören macht doppelt aufmerksam: Kommt er mit entsprechenden Informationen vom Arzttermin z. B. mit seinem Rezept in die Apotheke und wird wieder darauf angesprochen, verfestigt sich die Botschaft anders und ist viel wirkungsvoller. Aus Sicht der Apotheke ist Zeit natürlich ein begrenztes Gut, aber ich mache die Erfahrung: Wenn man schon auf solche Situationen vorbereitet ist, braucht diese Information gar nicht viel Zeit und es profitieren ganz viele Patienten davon. Ich freue mich auf den Tag, wenn ein betroffener Angehöriger im Beratungsgespräch zu mir sagt: „Jaja, Frau Herbst, ich war schon in der Pflegeberatung und nächste Woche fange ich mit meinem Angehörigenseminar an“. Das wäre mein Wunsch.

Kälin: Demenz ist als palliative Erkrankung vor allem angstauslösend. Da es viel Halbwissen im Kontext demenzieller Erkrankungen gibt, muss man sich zunächst viel Wissen aneignen. Gleichzeitig helfen eben auch Austausch und Vernetzung, das heißt das offene Sprechen über die Erkrankung. Das kann natürlich auch befördert werden, indem auch pharmazeutisches Personal keine Scheu hat, diese Themen anzusprechen und auf eine einfühlsame Weise auf Angehörige und Patienten herangeht und auch mal sagt, Ich habe festgestellt, da steht gerade bei Ihnen so etwas im Raum, fühlen Sie sich da gut versorgt? Ich kann gerne auch Tipps und Hinweise geben.‘
Das würde schon viel dazu beitragen, das Tabu zu brechen. Das habe ich auch in der Begleitung meiner Mutter gemerkt: Mir hat es als Angehörige gutgetan, wenn Menschen den Mut hatten, mich offen auf das Thema anzusprechen. Dann hatte ich die Gelegenheit, meine Situation zu schildern und darüber gute Tipps und Ideen zu bekommen, wie ich mit dem Thema umgehen kann. Unter dem Motto „Reden hilft“ kann man der Krankheit ganz viel Schrecken nehmen. Das ist mein Wunsch.

Herbst: Ja, es ist wichtig, dem Ganzen mehr Raum in der Normalität zu geben.

Wir danken Frau Kälin und Frau Herbst herzlichst für das Interview!

Das Interview führte Johanna Pfeiffer.